Klinische Genetik und Beratung

Die klinische Genetik ist die praktische Anwendung genetischer Erkenntnisse in der Medizin. Die genetische Sprechstunde dient zunächst der Erkennung, Zuordnung und Diagnostik genetisch bedingter oder mitbedingter Erkrankungen. Beim Vorliegen einer genetisch bedingten Erkrankung wird deren Verlauf, eventuell notwendige Vorsorgemaßnahmen oder besondere Behandlungsstrategien, sowie das Vererbungsmuster und Wiederholungsrisiko den Patienten bzw. deren Sorgeberechtigten erläutert. Da die in der genetischen Beratung besprochenen Sachverhalte häufig von lebensbegleitender und oft generationsüberschreitender Bedeutung sind, erhält der jeweilige Ratsuchende einen an ihn selbst gerichteten schriftlichen Bericht. Der überweisende Arzt erhält eine Kopie dieses Berichtes.

Gründe für eine Vorstellung in der genetischen Sprechstunde bzw. für eine genetische Beratung sind z. B.:

  • Erbleiden, Fehlbildung oder geistige Retardierung bei einem Familienangehörigen
  • Blutsverwandtschaft
  • Unerfüllter Kinderwunsch
  • Wiederholte Fehlgeburten
  • Erhöhtes Alter bei Schwangerschaft
  • Außergewöhnliche Strahlenbelastung oder Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft

Eine genetische Beratung kann bei gesetzlich Versicherten nur auf Überweisung durch einen niedergelassenen Arzt (z. B. Hausarzt, Frauenarzt, Kinderarzt, Neurologe, etc.) erfolgen. Bei einfacheren Fragestellungen im Rahmen einer Schwangerschaft kann oft auch der behandelnde Frauenarzt das anstehende Problem klären. Genetische Untersuchungen unterliegen nicht der Budgetierung, so dass eine Überweisung in der Regel kein Problem darstellt. Um größere Wartezeiten zu vermeiden, werden Termine nur nach Vereinbarung vergeben.

Syndromologie

Unter "Syndromologie" versteht man in der Genetik in erster Linie "Dysmorphologie", was ganz allgemein die Lehre von den Abweichungen von den normalen Körperformen meint. In der Humanmedizin sind hiermit einerseits größere Fehlbildungen wie z. B. Herzfehler, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten oder Gliedmaßenveränderungen und andererseits kleine Anomalien z. B. der Ohr-oder Augenform gemeint. Beides, sowohl größere Fehlbildungen als auch kleine Anomalien, lassen sich auf eine von der Norm abweichende Entwicklung im Mutterleib zurückführen und sind oft Indikatoren für komplexere Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen. Als Ursachen für solch eine abweichende Entwicklung kommen schädigende Umwelteinflüsse während der Schwangerschaft (z. B. Infektionen, bestimmte Medikamente oder Alkoholmißbrauch) oder eine primäre Fehlsteuerung durch die für die menschliche Entwicklung verantwortlichen Erbanlagen in Frage. Veränderungen in den Erbanlagen ihrerseits können entweder bei einem Individuum neu entstehen oder innerhalb einer Familie offensichtlich oder verdeckt über Gesunde weitervererbt werden.

In der Syndromologie werden aus der charakteristischen Kombination bestimmter Fehlbildungen oder Anomalien Rückschlüsse auf die zugrundeliegende Entwicklungsstörung gezogen. Falls die Ursache in der Veränderung einer bekannten Erbanlage vermutet wird, kann dies durch eine Genanalyse, meist aus Blutzellen, bestätigt werden. Wenn die Ursache für eine Fehlbildung oder Erkrankung bekannt ist, kann einerseits der Krankheitsverlauf und eventuell notwendige Kontrolluntersuchungen besser abgeschätzt werden und andererseits kann Auskunft darüber gegeben werden, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit sich die Erkrankung in der Familie wiederholen kann. Falls eine Erbanlage für eine bestimmte Entwicklungsstörung noch nicht bekannt ist, aber in einer Familie mehrere Betroffene leben, kann im Rahmen einer Familienuntersuchung versucht werden, die verantwortliche Erbanlage zu identifizieren. Zur Ursachenabklärung und Familienberatung sollte daher u. a. bei folgenden Problemen eine Vorstellung in der genetischen Sprechstunde erfolgen: angeborene Fehlbildungen, Skeletterkrankungen, Klein- oder Großwuchs, Entwicklungsverzögerung oder geistige Behinderung.

Ablauf einer syndromologischen Abklärung

In der genetischen Sprechstunde zur Abklärung eines möglichen Syndroms wird versucht, die Ursache für eine körperliche oder geistige Entwicklungsstörung zu finden. Hierbei werden alle verfügbaren Unterlagen (Mutterpass, gelbes Untersuchungsheft, Arztbriefe von Krankenhausaufenthalten etc.) benötigt. Nach einer Befragung über Entwicklungsstörungen in der Familie (Stammbaumanalyse) erfolgt eine körperliche Untersuchung des Patienten, wobei besonders auf kleine Anomalien z. B. der Ohr-, Augen- oder Fingerform geachtet wird, da diese oft wegweisend für die Ursachenaufklärung sind. Falls die Untersuchung einen Hinweis auf eine Veränderung in den Erbanlagen gibt, kann dieses in bestimmten Fällen durch eine Genanalyse meist aus einer Blutprobe überprüft werden. Wenn die Ursache für eine Erkrankung gefunden wurde, kann der Patient bzw. seine Eltern darüber aufgeklärt werden, was bei der jeweiligen Erkrankung zu beachten oder zu erwarten ist und ob und wie sie sich in der Familie wiederholen kann und welche Möglichkeiten der Behandlung oder der vorgeburtlichen Erkennung bestehen.